Interview mit Marc Nölke – Covid Neuro Training

Herr Nölke, was genau ist das „Covid Neuro Training“, und für wen ist es gedacht?
Marc Nölke:
Das Covid Neuro Training ist ein testbasiertes, neurofunktionelles Trainingssystem für Menschen mit Long COVID, ME/CFS oder postvakzinalem Syndrom. Es basiert auf Prinzipien der funktionellen Neurologie, Hirnstammregulation, visueller und vestibulärer Bahnung und autonomer Balance.
Ziel ist es, das Nervensystem über gezielte, individuell testbare Reize in Richtung Regulation und Selbstorganisation zu beeinflussen – ohne Überforderung. Patient:innen mit Symptomen wie Fatigue, Reizintoleranz, orthostatischer Dysregulation, „Brain Fog“, Koordinationsproblemen oder sensorischer Überflutung können von diesem Ansatz profitieren.
Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von klassischen Rehabilitationsprogrammen?
Marc Nölke:
Wir arbeiten nicht mit festen Protokollen oder pauschalen Bewegungsempfehlungen, sondern mit individuellen neurologischen Reizen, die innerhalb weniger Sekunden testbar wirken. Die Übungsauswahl basiert auf Test-Retest-Verfahren, die sofort zeigen, ob ein Stimulus hilfreich, neutral oder überfordernd ist.
Zentrale Bausteine sind:
- Pupillometrie, um autonome Dysfunktionen sichtbar zu machen
- Kurze Übungsprogramme (1–10 Minuten) mit gezielten Reizen auf Hirnnerven, Vestibularapparat, visuelles System und Atemzentrum.
- Tägliches Training, individuell angepasst
- Trackingtools zur Selbstregulation und Steuerung
Wir sprechen damit exakt jene Strukturen an, die in der aktuellen Forschung als dysfunktional bei Long COVID beschrieben werden.
Wie läuft das Covid Neuro Training konkret ab – wie muss man sich das vorstellen?
Marc Nölke:
Das gesamte Training findet online statt. Man kann jederzeit starten und jederzeit kündigen. Es gibt eine monatliche Gebühr.
- Wir beginnen mit dem Onboarding-Call:
Zu Beginn gibt es ein ausführliches 1:1-Gespräch via Google Meet. Wir erfassen Symptome, die gesamte Krankengeschichte, Belastungstoleranz, Tagesrhythmus, vegetative Reaktionsmuster. Eine Pupillenreflexmessung kann der Klient zu Hause selbst mit einer speziellen Telehealth-App durchführen, wenn er möchte. Des weiteren - Erstes 1:1 Training
Danach erfolgt ein erstes 1:1 Training, in dem wir mit individuell angepassten Basisübungen wie zum Beispiel Blickstabilisierung, Summen mit Zungendruck, Atmen in bestimmten Atemrhytmen und visuell-vestibuläre Übungen starten. Jede Übung wird mit einem funktionellen Retest kombiniert (z. B. Kopfdrehung, Einbeinstand, Perfusionsindex). - Darauf aufbauend entwickeln wir einen ersten Trainingsplan:
Basierend auf den positiven Reaktionen wird ein erster individueller Plan mit 2 täglichen Mini-Einheiten à ca. 5 Minuten erstellt. - Begleitung und Anpassung:
In wöchentliche Online-Gruppencalls, Community Check-ins, Videolektionen und – bei Wunsch – weitere 1:1-Sitzungen sichern die Umsetzung und Anpassung des Trainingsplans.
Das System ist bewusst so gestaltet, dass es auch bei extremer Fatigue, kognitiven Einschränkungen oder Überforderung nutzbar bleibt.
Die Teilnehmer:innen lernen also im Verlauf des Trainings, was ihnen hilft, ihre Symptome selbst zu managen?
Marc Nölke:
Ja, absolut. Das Covid Neuro Training ist im Kern ein Selbstregulations-Training auf neurobiologischer Ebene. Die Betroffenen lernen, welche Reize ihr Nervensystem stabilisieren und welche es noch überfordern. Dadurch entwickeln sie ein konkretes, körperlich überprüfbares Gespür für Selbstwirksamkeit – was gerade bei ME/CFS oder Long COVID oft verloren geht.
Ein Beispiel: Wenn jemand feststellt, dass z. B. Summen mit Zungendruck gegen die linke Wange seine visuelle Reizverarbeitung verbessert und danach weniger Lichtempfindlichkeit besteht, oder er oder sie damit Schwindel reduzieren kann, entsteht ein Aha-Effekt – das Nervensystem bekommt eine neue Route gezeigt. Solche Mikroerfolge verändern das gesamte Krankheitsmanagement. Und durch Training kann sich die Reizverarbeitung dann auch dauerhaft verbessern.
Welche Erfolge konnten Sie mit diesem Ansatz erzielen?
Marc Nölke:
Die Erfolge sind individuell, aber oft sehr deutlich spürbar, zum Beispiel
- Reduktion von sensorischer Überreizung (Licht, Geräusche, Gerüche)
- Besserung kognitiver Funktionen wie Fokus, Sprache, visuelle Verarbeitung
- Stabilisierung von Kreislauf und Blutdruck bei Dysautonomie (z. B. POTS)
- Mehr körperliche Belastbarkeit – oft messbar an Handkraft oder Gehstrecke
- Deutliche Reduktion von Crash-Häufigkeit und Schwere
Wir nutzen objektive Marker (z. B. Pupillometrie, Handkraftmessung, Disdiadochokinese) und subjektive Scores wie die Fatigue Severity Scale (FSS), COMPASS-31 sowie ROM-Tests zur Verlaufsmessung. Eine erste Erhebung zeigte, dass Teilnehmer:innen 50% weniger Schwindel haben nach 24 Wochen Training, 30% weniger Lichtempfindlich sind und sich ihre körperliche Fitness um 33% verbesserte. Aber die Erfolge sind im Grunde schwer abzubilden in Zahlen. Eine Klientin hat gerade nach 2 Jahren zum ersten mal wieder Ihre Familie getroffen, weil ihre extreme Chemosensibilität, insbesondere das Riechsystem, so extreme Reaktionen verursachte. Ist das körperliche Fitness? Nein. Aber ein großes Stück Lebensqualität.
Gibt es denn wissenschaftliche Evidenz, die Ihre Arbeit stützt?
Marc Nölke:
Ja, die Grundlagen sind klar belegt, das Neurotraining hat also eine starke wissenschaftliche Basis. Erst kürzlich zeigte Ziaja et al. (2025), dass bei Long COVID-Patient:innen massive strukturelle Veränderungen im Hirnstamm und Kleinhirn auftreten – insbesondere eine Atrophie der superioren und mittleren Kleinhirnstiele (Pedunculi cerebellares) sowie eine Schrumpfung der Raphe-Kerne und der pontinen Formatio reticularis im Stammhirn. Diese betroffenen Regionen sind zentral für die Steuerung von vegetativen Funktionen, motorischer Koordination, Reflexintegration und kognitiver Aktivierung – genau jene Systeme also, die unser Neurotraining gezielt moduliert und reaktiviert.
Prof. Dr. Martin Korte von der TU Braunschweig sagt, er glaube, dass dieses Training jedem hilft, die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu erhalten oder wieder herzustellen. Mittlerweile wird mein Buch Long Covid Neuro Training von führenden Therapeuten empfohlen, worüber ich mich sehr freue. Allerdings ist es 2021 erschienen und seitdem hat sich doch einiges weiterentwickelt.
Wer Grundlagen möchte, kann sie hier nachlesen:
- Gellerstedt et al. (2022): zeigen funktionelle Hirnstammveränderungen bei Long COVID, die mit Fatigue, Dysautonomie und Reizintoleranz korrelieren:
Gellerstedt, M., Landtblom, A. M., & Norrefalk, J. R. (2022). Brainstem dysfunction in long COVID: A neurophysiological and neuroimaging study. Frontiers in Neurology, 13, 866402. https://doi.org/10.3389/fneur.2022.866402 - Barizien et al. (2021): Clinical characterization of dysautonomia in long COVID-19 patients – Die Arbeit dokumentiert autonome Dysfunktionen als Schlüsselmechanismus bei post-COVID-Symptomatik.
→ J Clin Med. 2021;10(17): 3735. doi: 10.1038/s41598-021-93546-5 - Kleim & Jones (2008): definieren 10 Prinzipien europlastischer Veränderung, die wir exakt umsetzen: Spezifität, Wiederholung, Intensität, Relevanz, Aufmerksamkeit u. a.: Principles of Experience-Dependent Neural Plasticity: Implications for Rehabilitation After Brain Damage
DOI:10.1044/1092-4388(2008/018)
4. Butler & Moseley (2003): zeigen, wie neuronale Bahnung und sensorische Integration Reizverarbeitung beeinflussen – auch ohne Belastung. (Explain Pain SUpercharged. NOI Group.)
Wie kam es dazu, dass Sie das Covid Neuro Training entwickelt haben?
Marc Nölke:
Der Impuls kam aus mehreren Richtungen gleichzeitig. Zum einen begleite ich seit vielen Jahren Klient:innen mit komplexen neurologischen Problemen – von Schlaganfall bis MS. Darunter auch Athlet:innen mit posttraumatischen Belastungen, Bewegungsfehlern, Schmerzen, chronischer Überforderung des autonomen Nervensystems oder schwer messbaren Funktionsstörungen.
Als dann im Zuge der Pandemie zunehmend Menschen mit Long COVID oder Impffolgen auf mich zukamen – mit Symptomen wie extremer Fatigue, Koordinationsverlust, Dysautonomie, Brain Fog und Reizüberflutung – war schnell klar: klassische Rehaansätze werden hier nicht funktionieren. Diese Menschen konnten oft nicht „trainieren“, weil schon kleinste Belastung zu Rückfällen führte.
Gleichzeitig zeigten neurowissenschaftliche Studien schon damals sehr deutlich, dass Hirnstamm, der Frontallappen, Kleinhirn, Mittelhirn und das autonome Nervensystem massiv mitbetroffen sind. Aus der Arbeit mit Sportlern und bei Gehirnerschütterungen kannte ich diese Probleme nur allzu gut. Daraus entstand die Idee, ein minimalistisches, testbares, rein neurofunktionelles Trainingssystem zu entwickeln.
Ich habe dieses System über Monate hinweg mit Betroffenen in Einzelcoachings, Gruppenkursen und 1:1-Pilotstudien erprobt – und die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass ich erst ein Buch dazu verfasst habe und später dann ein Onlineprogramm ausgearbeitet habe.
Kurz gesagt: Das Covid Neuro Training ist meine Antwort auf die Frage: Wie kann man das Nervensystem tiefgreifend aktivieren – ohne es zu überfordern?
Planen Sie, das System weiter auszubauen oder zu skalieren?
Marc Nölke:
Ja. Mein Fokus liegt auf Inhaltstiefe, neurofunktioneller Diagnostik und Trainingskonzeption – aber um das systematisch skalierbar, validierbar und für viele zugänglich zu machen, braucht es ein starkes Team mit digitaler und analytischer Kompetenz. Ich suche aktuell gezielt nach einem strategischen-Investor, der die Bereiche abdecken kann, die außerhalb meiner Hauptexpertise liegen: Entwicklung skalierbarer Onlinekurse,digitale Produktentwicklung, automatisierte Onlinevertriebsprozesse, Kundenservice, Datenanalyse und wissenschaftliches Studiendesign.
Das Covid Neuro Training ist kein klassisches Rehaprogramm, sondern ein präzise neurobiologisch gesteuertes System, das Autonomie, Selbstregulation und funktionelle Reorganisation des Nervensystems ermöglicht – in einem Rahmen, der auch von stark beeinträchtigten Klient:innen tragfähig genutzt werden kann. Ich denke, dass es momentan weltweit in dieser Form ziemlich einzigartig ist. Ich möchte gerne so viele Menschen wie möglich unterstützen.